Der Londoner Fußballclub AFC Wimbledon war in den vergangenen Jahren schon allein wegen seiner recht ungewöhnlichen Geschichte ein fester Bestandteil meines Blogs. Der Club aus dem Südwesten der britischen Hauptstadt hat eine schier unglaubliche Entwicklung hinter sich, die sich in der nüchternen kommerziellen Fußballwelt fast wie ein modernes Märchen anhört.
Die dazugehörige Story kann guten Gewissens in die Rubrik „Fußball-Romantik“ eingeordnet werden und hängt untrennbar mit dem ehemaligen FA Cup-Sieger und Premier League-Club FC Wimbledon zusammen, der nach dem Erstliga-Abstieg im Jahr 2000 förmlich am Ende war. Erhebliche finanzielle Probleme zwangen die damaligen Verantwortlichen, die Lizenz des Vereines an einen „windigen“ Geschäftsmann namens Pete Winkelman zu verkaufen, der den gesamten Club daraufhin nach Milton Keynes, einer knapp 90 km von London entfernten Retortenstadt, umsiedelte und als I-Tüpfelchen auch gleich noch einen neuen Namen präsentierte.
So gingen aus dem bankrotten aber traditionsreichen FC Wimbledon die langweiligen und grauen Milton Keynes Dons hervor, die mit ihren wenigen Fans fortan äußerst unbeliebt durch die englischen Fußballstadien zogen und nicht einmal vom Dachverband der englischen Fanclubs anerkannt wurden. Da die stolzen Anhänger des FC Wimbledon ihre Identität, Historie und Tradition nach über 100 Jahren Existenz nicht einfach begraben wollten, schlossen sich mehrere Fans umgehend zusammen und gründeten ihren Verein als AFC Wimbledon neu. Man startete in der untersten Liga, führte in der ersten Saison ein Spieler-Casting durch und mietete sich in einem Hockey-Stadion zunächst als Gast ein, damit ein Spielbetrieb überhaupt möglich war. Auch nach fast 20 Jahren, mehreren Aufstiegen und der Etablierung im englischen Profifussball blieben Struktur und Kultur des Clubs unverändert. Der Verein gehört nach wie vor den Fans und wird nicht von einem der vielen interessierten Investoren des englischen Fußballs geführt.
Ich durfte in der jüngeren Vergangenheit hautnah dabei sein, wie der Club im Play-Off-Finale von Wembley in die dritte Liga aufstieg und zum ersten Mal beim verhassten „Vorgängerclub“ aus Milton Keynes antreten durfte.
Am Ende des vergangenen Monats November hieß es nach zwei langen Corona-Jahren endlich mal wieder „London Calling“. Rückblickend war das die vielleicht beste Entscheidung des Jahres, da eine Reise auf die Insel aufgrund der neuerlichen Omikron-Reisebeschränkungen und dem erneut ausgerufenen „Virusvariantengebiet“ aktuell vermutlich schwieriger ist, als aus dem Alcatraz-Gefängnis auszubrechen.
Nach meiner Ankunft am Flughafen Heathrow und dem vorgeschriebenen „Day 2-Antigen-Test“ wollte ich mir im eigentlichen „Tennis-Mekka“ das nächste kleine Mosaik-Steinchen in der positiven Entwicklung des AFC Wimbledon vor Ort anschauen.
Das Stadion an der Londoner Plough Lane galt seit dem Jahr 1912 als sportliche Heimat des FC Wimbledon und sollte vom Nachfolgeclub selbstverständlich übernommen werden. Nur dumm, dass der FC Wimbledon bis zu seiner Auflösung schon über 10 Jahre dort nicht mehr spielen konnte, da die britische Regierung nach der Stadionkatastrophe von „Hillsborough“ nur noch reine Sitzplatz-Stadien erlaubte. Da das alte Stadion an der Plough Lane fast ausschließlich Stehplätze besaß und ein Umbau unmöglich war, musste der Club seine Spiele fortan im Selhurst Park von Rivale Crystal Palace bestreiten. Im Jahr 1998 wurde das Gelände samt verfallenen und verwilderten Stadion an eine Supermarktkette verkauft, welche letztlich eine Wohnsiedlung auf dem Stadiongelände errichten ließ.
Da es nun für den AFC Wimbledon nach seiner Gründung keine richtige Heimat mehr gab, musste der Club seine Heimspiele im ungenutzten „Exil“-Stadion „Kingsmeadow“ austragen. Seit Mitte der vergangenen Saison ist der Club endlich zurück in der alten Heimat. Nur knapp 180 Meter vom Grundstück des alten Stadions entstand die neue Spielstätte an der Plough Lane mit einem Fassungsvermögen von 9.300 Zuschauern. Da Platz und Wohnraum auch im Londoner Stadtteil Wimbledon äußerst knapp sind, wurde das Stadion in einen ebenfalls neu erbauten Wohnkomplex integriert. Genau das dürfte der ultimative Traum eines jeden Wimbledon-Fans sein, wenn man die Spiele seiner „Dons“ aus dem Wohnzimmer verfolgen kann. Allerdings dürfte der Kaufpreis im oberen sechsstelligen, wenn nicht siebenstelligen, Bereich liegen und bei einem ungedeckten Bankkonto mehr Bauchschmerzen als Spielvorfreude bereiten.
Am 20. Spieltag der EFL League ONE kam es an der Plough Lane zu einem Abstiegsduell zwischen dem AFC Wimbledon (18.) und den auf einem Abstiegsplatz stehenden Gästen von Fleetwood Town (22.). Vor starken 7.405 Zuschauern entwickelte sich bei eisigen Temperaturen, starkem Wind und Regen das typisch englische Drittliga-Spiel, bei dem die Freunde des gepflegten One-Touch-Hochglanzfußballs ganz schnell die Augen zukneifen. Unzählige Grätschen, wilde Kopfballduelle und intensive Zweikämpfe gaben dem Spiel genau das, was ich auch erwartet hatte. Lediglich der 19jährige marokkanische Spielmacher der Dons, Ayoub Assal, tat mir fast schon ein wenig leid. Der technisch hochbegabte Zehner hatte richtig viel Lust auf gepflegten Fußball, war aber während der gesamten 90 Minuten nur damit beschäftigt, seinen Körper vor den seines drei Köpfe größeren Gegenspielers zu schieben und den Ball für die nachrückenden Mitspieler zu halten. Am Ende stand es schiedlich friedlich 2:2 (0:1), ein Ergebnis mit dem sich keine Mannschaft sonderlich viel Luft im Abstiegskampf verschaffen kann. Für besondere Erheiterung sorgte Schiedsrichter Robert Madley in der Schlussphase, als er tatsächlich stramme 10 Minuten nachspielen ließ und den großen Sepp Herberger endgültig bloss stellte. Ein Spiel dauert nämlich jetzt 100 Minuten. Glücklicherweise bleibt der Ball rund.
Nach dem Drittliga-Auftakt in Wimbledon und einer recht kurzen Nacht stand am nächsten Tag die englische Premier League auf dem Programm. Obwohl ich im Westen der englischen Hauptstadt blieb, war eine Überquerung der Themse erforderlich. Hier wartete ein äußerst interessanter „Konzept“-Club, der in dieser Saison zum ersten Mal im englischen Oberhaus antreten darf.
Der im Jahr 2011 erschienene Blockbuster „Moneyball…Die Kunst zu gewinnen“ mit Brad Pitt in der Hauptrolle handelt von dem Teammanager eines finanziell klammen Baseball-Teams, der mit Hilfe von Computerstatistiken ein erfolgreiches Team formen will. Was auf der Hollywood-Leinwand schon allein aufgrund der wahren Begebenheit mit dem typischen Happy-End zum Schluss kommt, gehört mittlerweile auch bei experimentier- und risikofreudigen Fußballclubs zum absoluten Standard.
Als mit Abstand erfolgreichstes Beispiel dient hier der dänische Club FC Midtjylland, der mit Einführung der Moneyball-Methode im Jahr 2014 in der Folge dreimal die dänische Fußball-Meisterschaft gewinnen konnte. Was aber genau ist denn jetzt diese Moneyball-Methode? Um es vorweg zu sagen, so ganz zu durchschauen ist das für Computer-Legastheniker vermutlich nicht. Am Ende ist es ein Computerprogramm, in welchem Spieler, die in grösseren Vereinen oder stärkeren Ligen durchs Raster gefallen sind, aufgrund von Statistiken und einer eingehenden Datenanalyse für vergleichsweise wenig Geld verpflichtet werden. So kam es gerade bei dem dänischen Club aus Herning immer wieder zu überraschenden Transfers, die man nicht immer ganz nachvollziehen konnte. So fand ich den Transfer des deutschen Stürmers Luca Pfeiffer vor Beginn der letzten Saison recht spannend. Der 1,96 Meter große Stürmer kam für 1,5 Millionen Euro von Zweitliga-Aufsteiger Würzburger Kickers und wurde sogar dreimal in der UEFA Champions League eingesetzt. Auch wenn er sich letztlich (noch) nicht ganz durchsetzen konnte, werden die Dänen mit Sicherheit viel Geld mit dem jungen Mann erwirtschaften. Momentan schiesst Pfeiffer für seinen Leihclub SV Darmstadt 1898 in der 2. Fußball Bundesliga alle Gegner in Grund und Boden.
Aber wer hat „Moneyball“ im europäischen Fußball verankert? Als Pionier gilt hier der Besitzer des frisch gebackenen Premier League-Clubs Brentford FC, der Multimillionär Matthew Benham, der seinen damals hoch verschuldeten Lieblings-Club im Jahr 2012 in der dritten Liga übernahm und zunächst mit Privatvermögen rettete. Der ehemalige Oxford-Physik-Student machte zu Beginn des Jahrhunderts ein Vermögen mit analytisch-mathematisch errechneten Sportwetten.
Mit diesem Ansatz führte er in der Folge auch seinen FC Brentford, bei welchem die gesamte Personalpolitik nicht nach persönlichen oder subjektiven Gesichtspunkten, sondern äußerst rational nach geheim gehaltenen statistischen sowie mathematischen Analysen erfolgt. Der vergleichsweise finanzschwache Underdog stieg zur laufenden Saison das erste Mal seit 1947 in die englische Premier League auf.
Am 13. Spieltag der laufenden Saison trafen die „Bees“ im nagelneuen Brentford Community Stadium auf den Everton Football Club. Ich war sehr gespannt auf den ehemaligen Bochumer und deutschen U21-Nationalspieler Vitaly Janelt, der in der vergangenen Saison offensichtlich durch die Software auserwählt wurde und für eine leistungsgerechte Ablösesumme von 600.000 Euro die Seiten wechselte. Bei dem 1:0 (1:0)-Sieg gegen die „Toffees“ zeigte Janelt im zentralen Mittelfeld eine hervorragende Leistung. Man muss sich fast die Frage stellen, ob das der gleiche Janelt war, der im grauen deutschen Zweitliga-Alltag zwar nie schlecht, aber selten herausragend agierte.
Nicht umsonst konnte Janelt seinen Marktwert mittlerweile auf 10 Millionen Euro steigern. Nur gut, dass der VfL Bochum 1848 nach eigenem Bekunden an einem Weiterverkauf beteiligt ist. Ein weiterer Spieler, bei dem das Computerprogramm mit Sicherheit nicht versagt hat, ist der 25jährige Stürmer Ivan Toney. Der Anglo-Jamaikaner kam zur letzten Zweitliga-Saison für 5,5 Millionen Euro von Konkurrent Peterborough United. Ein durchaus riskanter Transfer, wenn man sich die Vita des Stürmers anschaut und nicht einer Computerempfehlung folgt. In seinen sieben Profijahren war der Wandervogel bei sieben Clubs aktiv. In der Premier League traf Toney bislang 4mal und konnte seinen Marktwert auf unfassbare 32 Millionen Euro steigern.
Zum Abschluss bleibt eigentlich nur eine Frage offen. Wie konnte der FC Midtjylland das geheime Computerprogramm aus Brentford kopieren? Ganz einfach, der gute Mr. Benham war auf der Suche nach einem Partnerclub in Belgien, entschied sich aber letztlich für die Dänen. Denn die lügen bekanntlich nie.
Stay tuned…bleibt am Ball!