Der Wonnemonat Mai gilt im europäischen Fußball-Kalender traditionell als „Monat der Entscheidungen“. Neben den Europapokal-Endspielen der UEFA Champions-, Europa- und Conference League werden in 42 der insgesamt 54 europäischen „ersten“ Ligen vor allem die folgenden Fragen abschließend beantwortet: Wer darf sich nach einer langen und kräftezehrenden Saison endlich die Meisterschaftskrone aufsetzen? Wer muss den bitteren Gang in die 2. Liga antreten? Wer steigt von unten auf? Und wer darf eigentlich im Europapokal starten?
Dementsprechend erleben die Fußball-Liebhaber auf dem gesamten Kontinent in ganz kurzer Zeit sehr viele positive sowie negative Emotionen auf einen (Herz-)Schlag und sind oft heilfroh, nach Ende der Spielzeit endlich mal richtig durchatmen zu können! Wer aber nach Ende der Meisterschaftsrunde immer noch nicht genug hat, erhält die Möglichkeit des kompletten Synapsen-Durchbruchs bei einem der vielen nationalen Pokalendspiele, die ab Mitte April von Kopenhagen bis Yerevan nahezu täglich ausgetragen werden. Obwohl die jeweiligen Gewinner in der kommenden Saison allesamt an einem Europapokal-Wettbewerb teilnehmen dürfen, könnten die Endspiele in Sachen Modus, Zuschauerzuspruch und Ambiente nicht unterschiedlicher sein.
Während die Hochglanz-Veranstaltungen im englischen Wembley-Stadion oder dem Berliner Olympia-Stadion weltweit wahrgenommen werden, gibt es wie im bereits behandelten Wales ganz viele „kleine“ europäische Pokalendspiele, die irgendwie völlig unter der Grasnarbe laufen. Dazu gesellen sich Länder wie Kroatien oder Bosnien-Herzegowina, die ihren Pokalsieger relativ umständlich mit einem Hin- und Rückspiel ermitteln.
Auch der Ausgang des ungarischen Pokalfinales 2024 dürfte „westlich der Donau“ kaum jemand interessiert haben. Und das ist eigentlich sehr schade, da es am Ende ein Pokalspiel aus dem Bilderbuch war! Im fast nagelneuen ungarischen Nationalstadion, der 2019 eröffneten Puskas Arena, traf Rekordmeister Ferencvarosi Torna Club (FTC) auf den Ligarivalen Paksi FC. Obgleich sich das Duell zwischen dem amtierenden Serienmeister und neuem Vizemeister nach dem ultimativen Gipfeltreffen des ungarischen Fußballs anhört, konnte man aufgrund der großen Gegensätze nicht unbedingt von einer Begegnung auf Augenhöhe sprechen!
In der Favoritenrolle befand sich mit Sicherheit der 35-fache ungarische Meister und 24-fache Pokalsieger Ferencvaros! Der Club aus der Haupt- und Weltstadt Budapest hat die mit Abstand grösste Anhängerschaft des Landes im Rücken und leistet sich eine recht internationale Mannschaft mit einem Marktwert von fast 54 Millionen Euro. In der gerade abgelaufenen Saison der heimischen „OTP Bank Liga“ setzte sich „Fradi“ mit satten 16 Punkten Vorsprung vor Pokalgegner Paksi FC durch!
Trotz der diesjährigen Vizemeisterschaft ist der Herausforderer aus der ungarischen 20.000-Einwohner-Kleinstadt Paks an der Donau im ungarischen Fußball ein mehr oder weniger ein unbeschriebenes Blatt. Als grösster Erfolg des 1952 gegründeten Clubs, welcher aktuell ausschließlich heimische ungarische Spieler mit einem Marktwert von insgesamt 8,48 Millionen Euro beschäftigt, gelten die zwei errungenen Vizemeisterschaften aus den Jahren 2011 und 2024. Auch in Sachen Sightseeing kann das kleine Paks der ungarischen Hauptstadt nicht ansatzweise das Wasser reichen. Überörtliche Beachtung findet hier lediglich das nahe gelegene Atomkraftwerk, welches als grösste stromerzeugende Anlage Ungarns gilt und der Stadt viele Arbeitsplätze schenkte!
Bevor der Ball im Stadion des großen Ferenc Puskas aber endlich rollen sollte, wurde es in der wirklich sehenswerten und hochmodernen Arena zunächst einmal äußerst stimmungsvoll. Dies lag zum einen an der ungarischen Nationalhymne, die von den 51.900 Zuschauern selbstverständlich in voller Inbrunst mitgesungen wurde, vielmehr aber an einem Lied der ungarischen Musikgruppe „Ismerös Arcok“, das momentan die Stadionmassen elektrisiert und vielleicht sogar als inoffizielle ungarische Nationalhymne taugt.
Dabei ist der Hintergrund des fraglos ohrwurmfähigen Liedes mit dem Namen „Nelküled“, auf Deutsch -Ohne Dich-, nicht unbedingt im Sport zu finden, sondern beschäftigt sich mit der durchaus komplexen Geschichte Ungarns und Osteuropas! Um diesen Song und die dazugehörigen Gefühle zumindest oberflächlich zu erklären, muss man im Geschichtsbuch die Seite des Jahres 1920 aufschlagen.
Nach Ende des 1. Weltkrieges wurde die europäische Landkarte mit den sogenannten Pariser Vorortverträgen neu geordnet. Erwartungsgemäß kamen die unterlegenen Länder wie Deutschland, Österreich oder auch Ungarn dabei relativ schlecht weg. Am Beispiel Ungarn regelte der „Vertrag von Trianon“ die geografische Neuordnung, bei welcher das Land der Magyaren auf einen Schlag fast zwei Drittel seines Staatsgebietes und 58 % seiner Bevölkerung an Nachbarn wie die neu geschaffene Tschechoslowakei, Serbien oder Rumänien verlor.
Trotz der gesellschaftlichen Neuordnung, die viele Ungarn auch in der Gegenwart als lebendiges Nationaltrauma wahrnehmen, bestehen in den angrenzenden osteuropäischen Ländern auch weiterhin viele ungarische Kolonien. Die engagierten sich in den vergangenen Jahrzehnten selbstverständlich auch im Fußball, gründeten Vereine und konnten sich mit finanzieller „Auslandshilfe“ der ungarischen Regierung und potenten Staatsunternehmen wie dem Mineralölkonzern MOL hervorragend entwickeln.
Obwohl sich die ungarisch-stämmigen Clubs wie der slowakische Erstligist DAC Dunjaska Streda, der in der serbischen Vojvodina ansässige Europa-League-Teilnehmer FK TSC Backa Topola oder der rumänisch-siebenbürgische Verein Sepsi OSK in den vergangenen 104 Jahren mit ihrer „neuen“ Heimat grösstenteils abgefunden haben, sind sie sich ihrer ungarischen Identität dennoch bewusst! Deshalb wird bei diesen Clubs vor jedem Spiel selbstverständlich auch „Nelküled“ gespielt, das mit Textzeilen wie „Fünf Millionen Ungarn wurden von der Welt nicht gehört“ oder „Wir sind vom selben Blut“ einen großen magyarischen Zusammenhalt kreiert.
Den unbedingten Zusammenhalt benötigte auch die Mannschaft des Paksi FC im angesprochenen Pokalendspiel gegen die schier übermächtige „Fradi“-Mannschaft. Nach Anpfiff von FIFA-Schiedsrichter Balazs Berke musste man für die tapferen „Nuklear Boys“ aus Paks das Schlimmste befürchten. In den ersten 35 Spielminuten rollte die Ferencvaros-Angriffsmaschine unaufhörlich auf das Tor des überragenden Paksi-Keepers Peter Szappanos zu, der nicht nur mehrere Eins gegen Eins-Situation meisterte, sondern auch noch einen Foulelfmeter von FTC-Akteur Varga hielt. Spätestens als sich Paksi-Verteidiger Vecsei nach einer Notbremse mit der Roten Karte verabschiedete (38.), konnte die Ferencvaros-Führung nur eine Frage der Zeit sein!
Die wäre in der 2. Halbzeit sicher auch gefallen, wenn sich „Fradi“ in Person von Innenverteidiger Myenty Abena nicht selbst geschwächt hätte. Der Surinamer erhielt in der 75. Minute nach wiederholtem Foulspiel die Gelb-Rote-Karte und sorgte für personellen Gleichstand auf dem Feld.
Mit dem kam der Underdog aus Paks überraschenderweise weitaus besser klar und setzte mit dem eingewechselten ehemaligen Fradi-Spieler Daniel Böde (37) erste Nadelstiche in Richtung FTC-Tor. Da in der regulären Spielzeit keine Treffer mehr fielen, gab es in einem packenden und teilweise begeisternden Pokalfinale die unausweichliche Verlängerung. Hier gingen die unermüdlichen Kämpfer des Paksi FC nach einer Ecke in Führung, als Kristof Papp den Ball in der 98. Minute wuchtig einköpfte. Für die Entscheidung sorgte der eingewechselte Haraszti, der in der Nachspielzeit der Verlängerung bei einem Konter das leere Tor traf und Ferencvaros-Trainer Dejan Stankovic bei seiner Entscheidungsfindung für einen neuen Job in Moskau tatkräftig half.
Der sensationelle Gewinn des ungarischen Pokals 2024 ist für den Paksi FC der grösste Erfolg seiner vergleichsweise jungen Vereinsgeschichte! Herzlichen Glückwunsch und gutes Gelingen in der UEFA Europa League!
Das waren 24 Stunden in der äußerst lebenswerten ungarischen Hauptstadt Budapest! Wie immer gibts in meinen Social-Media-Accounts bei Instagram und Facebook weitere Fotos und bewegte Story-Bilder vom Spiel aus der Puskas-Arena! Klickt Euch mal rein!
STAY TUNED…BLEIBT AUF EMPFANG!