In der alljährlichen Statistik der grössten europäischen Touristenmagneten ließ sich die britische Hauptstadt London in den vergangenen Jahren nicht von der Spitze der Rangliste verdrängen.
Gerade für Erstbesucher wirkt die Metropole an der Themse wie ein riesiger Freizeitpark, in dem es an jeder Ecke etwas zu sehen gibt. Wer irgendwann einmal das klassische Einsteiger-Programm mit „Westminster“-Sightseeing, Shopping auf der Oxford Street oder einer Partytour durch das intensive Nachtleben mit über 5000 zapf-freudigen Pubs erleben durfte, kriegt sicher Lust auf mehr.
Mit zunehmender London-Erfahrung stellt man allerdings auch fest, dass abseits der weltbekannten Sehenswürdigkeiten nicht alles Gold ist, was glänzt. Dies bezieht sich in London in erster Linie auf die durchaus krassen sozialen Unterschiede außerhalb des glamourösen Stadtzentrums.
Während der Westen Londons mit Stadtteilen wie Fulham, Putney oder Wimbledon eher bürgerlich bis wohlhabend erscheint, gelten die östlichen Stadtteile jenseits des „Tower Hill“ als unterprivilegierte Arbeiterviertel mit einem überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenanteil und vergleichsweise hoher Kriminalität. Wer schon einmal mit der „District Line“ bis zur Endhaltestelle Barking gefahren ist, wird sicherlich festgestellt haben, dass es nie einfacher war, ein geklautes Autoradio zu kaufen…dürfte aber auch mit vollem Magen nach Hause gefahren sein, da es aufgrund der vielen asiatischen Einwanderer aus Pakistan, Indien oder Bangladesch dort die vermeintlich besten Curry-Gerichte der Stadt gibt.
In diesem problembehafteten „East End“ entstand im Jahr 1895 der „Thames Ironworks FC“. Die Betriebssport-Mannschaft der gleichnamigen Schiffsbau-Firma startete als Amateurclub in der lokalen „London League“, wurde aber schon fünf Jahre später aufgrund des zunehmenden Erfolges mit einem Namen versehen, der professioneller klang und heute noch Gültigkeit besitzt: West Ham United!
Der Prototyp eines Arbeiterclubs konnte in seiner 128-jährigen Vereinsgeschichte insgesamt dreimal den nationalen FA-Cup gewinnen und mit dem Sieg im Europapokal der Pokalsieger (1965, 2:0 gegen den TSV 1860 München) sogar einen bedeutsamen europäischen Titel feiern. Neben den sportlichen Erfolgen inspirierte der Werft-Club sogar die Hollywood-Traumfabrik, welche im Jahr 2005 mit dem Film „Hooligans“ die gewaltbereite Fanszene der „Hammers“ und ihre gefürchtete „Inter City Firm“ im ewigen Kampf gegen den großen (Casual-)Rivalen aus Millwall in Szene setzte.
Obwohl man letztlich nie einen Meistertitel erringen konnte, besitzt man im englischen Fußball einen sehr hohen Stellenwert. Dies liegt an der überragenden Jugendarbeit des Clubs, welcher als „Academy of Football“ unter anderem die englische Weltmeister-Legende Bobby Moore hervorbrachte oder die späteren Weltklasse-Spieler Frank Lampard und Rio Ferdinand ausbildete.
Auch ich durfte vor ziemlich genau 13 Jahren ein Hammers-Spiel im altehrwürdigen „Boleyn Ground“ erleben. Das Stadion an der Green Street, das der Club insgesamt 112 Jahre bespielte, wirkte in der damals schon milliardenschweren und etwas sterilen Premier League-Welt wie aus der Zeit gefallen. Das muss wirklich diese sagenumwobene „Working Class“-Atmosphäre gewesen sein, die in England jeder sucht…die aufgrund der zunehmenden Kommerzialisierung aber immer seltener wird. Ich erinnere mich jedenfalls gerne an die vielen zwielichtigen Gestalten, welche vor der 1:3-Niederlage gegen die Wolverhampton Wanderers an fast jeder Hausecke lauerten und sicher mehr Promille im Hirn als Zähne im Mund besaßen.
Im Hier und Jetzt wird der Osten Londons von einem Phänomen heimgesucht, das man auch in der deutschen Hauptstadt Berlin seit längerer Zeit feststellen kann…die sogenannte Gentrifizierung. Hierbei handelt es sich um die Aufwertung eines Stadtteiles durch umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen und dem Neubau von Wohngebäuden. Was sich erstmal positiv anhört, bedeutet im Umkehrschluss, dass die neuen Gebäude durch die alten Bewohner nicht mehr zu bezahlen sind. Dementsprechend werden die langjährigen Bewohner durch neue finanzstarke Mieter und Eigentümer ersetzt.
Der Austausch der Stadtteil-DNA macht auch vor dem East End nicht halt. Während Wohnraum in den Docklands oder Canary Wharf schon jetzt mit einem normalen Beruf faktisch nicht mehr zu bezahlen ist, geht der Irrsinn rund um Stadtteile wie Canning Town oder eben West Ham munter weiter. Überall schießen hochmoderne Wohngebäude und Hotels aus dem Boden und geben dem Osten ein völlig neues Gesicht!
Auch der angesprochene Fußballclub hat seine alte Heimat längst verlassen und spielt mittlerweile im hochmodernen Stadion der Olympischen Spiele 2012, das zwar nur knapp 6 Kilometer vom mittlerweile abgerissenen Boleyn Ground entfernt liegt, aber unterschiedlicher nicht sein könnte. Speziell in Sachen Verkehrsanbindung, Infrastruktur und Sicherheit lässt das sogenannte „London Stadium“ überhaupt keine Wünsche offen und dürfte noch längere Zeit in den „Top Ten“ der durchdachtesten Stadien zu finden sein. Allein die neben dem Stadion befindliche Westfield-Shoppingmall ist nur schwer zu begreifen, auch wenn ich die perfekte Verbindung zum Fußball noch suche. Schließlich ist ein Stadionbesuch mit vier Tragetaschen immer sehr mühselig!
Im Achtelfinal-Rückspiel der UEFA Europa Conference League 2022/2023 trafen die Hammers auf den zypriotischen Underdog AEK Larnaca. Der folgende Zahlenvergleich deutet an, welche Gegensätze in diesem Spiel aufeinanderprallten.
Einwohner beider Städte: 9 Millionen vs 52 Tausend
Marktwert der Teams (€): 451 Millionen vs 15 Millionen
Fassungsvermögen der Stadien: 62,5 Tausend vs 8 Tausend
Wertvollster Spieler (€): Declan Rice (80 Millionen Euro) vs Pere Pons (2 Millionen Euro)
Gründungsjahr: 1895 vs 1994
Instagram-Follower: 2,6 Millionen vs 14,3 Tausend
Dementsprechend muss ich an dieser Stelle überhaupt keinen großen Spannungsbogen aufbauen und darf konstatieren, dass die B-Elf der Hammers ihre überforderten Gäste an diesem Abend vor ordentlichen 40.482 Zuschauern mit 4:0 (1:0) abfertigte und problemlos ins Viertelfinale des Wettbewerbs einzog. Wenn man diesem Spiel überhaupt einen Hauch von Spannung einreden möchte, könnte man die knappe Abseitsentscheidung beim vermeintlichen Ausgleich der Zyprioten auswählen. Wenn der drin gewesen wäre, ja dann wäre vielleicht noch was gegangen.
Der sportliche Erfolg im Europapokal dürfte auch im fernen Los Angeles einen Menschen erfreut haben. Der verlorene Sohn der britischen Königsfamilie, Prinz Harry, ist großer West Ham-Fan. Diese Leidenschaft wurde ihm vermutlich von seiner Großmutter in die Wiege gelegt. Obwohl sich die jüngst verstorbene Queen Elizabeth II. zu Lebzeiten nie öffentlich zu ihrem Fußball-Lieblingsclub äußerte, soll sie sich in eine Fußball-Diskussion von zwei Palast-Mitarbeitern eingemischt haben. Die beiden Millwall-Fans diskutierten über das Derby gegen West Ham und waren wohl sichtlich geschockt, als die „Chefin“ ihre Meinung einbrachte und sich klar zu West Ham United bekannte.
Auch die vielen bürgerlichen Fans der Hammers haben den Umzug ins London Stadium offensichtlich gut verkraftet. Bei der stimmungsvollen Vereinshymne „I´m forever blowing bubbles“, standen selbst die oft trägen Fans der Haupttribüne auf und sangen lautstark mit. Dieser ungewöhnliche Stehplatz wurde trotz komfortablen Sitz sogar beibehalten, als Schiedsrichter Kabakov das Match anpfiff.
Du kriegst West Ham United zwar aus dem alten Stadion, das alte West Ham aber nicht aus den Fans!
Die passenden Fotos und bewegten Story-Bilder vom Spiel im Londoner Olympiastadion sowie viele weitere Eindrücke aus der inoffiziellen Hauptstadt Europas findet Ihr wie immer in meinem Social-Media-Bereich bei Facebook und Instagram. Klickt Euch mal durch!
STAY TUNED…BLEIBT AUF EMPFANG!