Für die Suche nach dem besonderen Urlaubserlebnis gelten die Reiseführer des australischen Verlages “Lonely Planet“ vor allem bei Rucksacktouristen als unverzichtbare Lektüre. Die 400-seitigen Bücher offerieren selbst in touristisch völlig überlaufenen Städten wie New York oder London alternative Ideen, mit welchen der neugierige Individualreisende diesen magisch-einsamen Ort findet, der so exklusiv ist, dass er dem bösen Massentourismus bislang verborgen blieb!
Ob dem LP-Autor auch etwas ergiebiges zur Kulturlandschaft der georgischen 20.000-Einwohner-Gemeinde Zestafoni einfallen würde, darf zumindest angezweifelt werden. Und dennoch gibt es in der grauen Industriestadt eine nostalgische Sehenswürdigkeit, die hervorragend in einen (Fußball-)Reiseführer passen würde.
Das Davit Abashidze Stadion von Zestafoni wurde bereits im Jahr 1952 mit Unterstützung des grössten örtlichen Arbeitgebers, einer erfolgreichen und weltweit exportierenden Ferrolegierungs-Fabrik, eröffnet. In den folgenden Jahren gab es insgesamt drei heimische Vereine, die dieses Stadion im sowjetischen und georgischen Liga-Alltag bespielen durften. Leider trafen all diese Clubs aus Zestafoni nie in einem Derby direkt aufeinander, da sie in unterschiedlichen „Zeitzonen“ lebten. Während der erste Club FC Metallurgi Zestafoni (1937 bis 1989 und 1999 bis 2004) über lange Zeit das Zugpferd der Stadt darstellte, gilt der FC Margveti Zestafoni (1991 bis 1999) trotz des Gewinnes der Vizemeisterschaft und einer Teilnahme am UEFA-Pokal (1996/1997) aufgrund der kurzen Lebensdauer eher als eine Art „One Hit Wonder“!
Die vermeintlich beste Zeit erlebte der Spielort, der früher ganz einfach Zentralstadion hieß, ab dem Jahr 2004. Nach dem erneuten finanziellen Scheitern des Platzhirsches FC Metallurgi entschlossen sich die durchaus potenten Besitzer der bereits angesprochenen „Stahlwerke“ zur Gründung eines neuen Clubs. So entstand mit dem FC Zestafoni ein Verein, der zwar aus dem Nichts kam, aufgrund des finanziellen Backgrounds und der ambitionierten Ziele aber sofort einen Platz im georgischen Liga-Oberhaus erhielt.
Mit der großzügigen Unterstützung der heimischen Wirtschaft entwickelte sich der Club prächtig und gewann in den Jahren 2011 und 2012 die georgische Fußballmeisterschaft. Dieser Erfolg war selbstverständlich mit der Teilnahme an den Qualifikationen zur UEFA Champions League bzw. UEFA Europa League verbunden. Dementsprechend musste das Davit Abashidze Stadion zumindest temporär auf Vordermann gebracht werden und erhielt neben diversen „Verschönerungen“ eine neue Rasenfläche. Auch wenn sicher nicht alles Gold war, was da glänzte, durfte der Club nach einer UEFA-Inspektion wenigstens seine Erstrunden-Spiele gegen kleinere Clubs wie Dacia Chișinău oder Neftçi PFK vor ausverkaufter Kulisse von 4.558 Zuschauern zuhause in Zestafoni absolvieren. Für die übrigen Spiele, bei denen vergleichsweise viele Auswärtsfans erwartet wurden, ging es in die Hauptstadt Tiflis, wo das riesige Boris-Paichadze-Nationalstadion genug Platz für alle hatte.
Auch wenn die zweite und vorerst letzte Meisterschaft der sogenannten „“Feroelebi“ nur 11 Jahre zurückliegt und das „Jahr 2004“ immer noch nach gestern klingt, hat sich im sportlichen Bereich mittlerweile ganz viel getan. Der FC Zestafoni spielt in der Gegenwart nur noch in der dritten georgischen Liga und verfügt über ein Stadion, in welchem die Zeit stehen geblieben ist. Mit Ausnahme des hervorragend präparierten Platzes hat sich die Natur an vielen Stellen des Stadions das zurückgeholt, was sie irgendwann mal abgeben musste. Das absolute Highlight waren allerdings die altehrwürdigen Katakomben und Funktionsbereiche des Stadions. Das Herzstück eines jeden Stadions roch wie an jedem Spieltag natürlich nach den in Spielerkreisen sehr beliebten Präparaten wie Mobilat-Gel, Franzbranntwein und Eukalyptus-Tropfen, offenbarte aber in erster Linie ganz viele Erinnerungen an die erfolgreiche Zeit des FC Zestafoni. Und das in einer Atmosphäre, die den Besucher eher in die 1970er-Jahre als das frühe 21. Jahrtausend katapultierte.
Auf den zahlreichen Fotos fand sich mit Nikoloz Gelashvili auch der Rekord-Torschütze des FC Zestafoni wieder, der für den Club von 2008 bis 2012 in 105 Spielen stolze 63 Tore erzielen konnte und großen Anteil an der ersten Meisterschaft besaß. Dementsprechend war es keine große Überraschung, dass die gute Torquote auch in Westeuropa für Interesse und Neugier sorgte. Gelashvili wechselte in der Winterpause der Saison 2011/2012 zu meinem VfL Bochum 1848 in die 2. Bundesliga und sicherte mit seinem überragenden Hacken-Tor im allerersten Spiel direkt einen 2:1-Sieg gegen den FC Hansa Rostock. Das musste der neue Stürmerstar sein, auf den die Zuschauer im Ruhrstadion lange warten mussten. Um es vorweg zu nehmen, er war es leider nicht. Die anschließende Mischung aus Pleiten, Pech und Pannen ließ den sympathischen „Gela“ dennoch zum Kultspieler werden, an den sich so ziemlich jeder Bochumer gerne mit einem Schmunzeln erinnert. Nach einem verkorksten Jahr zog der heute 38jährige Gelashvili weiter nach Aserbaidschan!
Dass in Zestafoni auch in der Saison 2023 noch erstklassiger georgischer Profifussball gespielt wird, liegt an der strategisch günstigen Lage im Westen des Landes und den Terminierungen des georgischen Fußballverbandes. Auch wenn jeder der zehn Teilnehmer der Erovnuli Liga ein eigenes (Heim-)Stadion besitzt, kann es durchaus sein, dass Spiele aufgrund regionaler Gesichtspunkte, der Reiseentfernung oder der Unbespielbarkeit des Platzes kurzfristig in andere Stadien des Kaukasus-Landes verlegt werden. Deshalb ist es ratsam, auf einer Fußballreise nach Georgien neben der Anstoßzeit auch immer den tatsächlichen Spielort im Auge zu behalten.
Am 27. Spieltag der laufenden Kalenderjahr-Saison sollte der FC Samgurali Tskaltubo eigentlich im heimischen „Stadion des 26. Mai“ auf Aufsteiger FC Samtredia 1936 treffen! Da die Rasenfläche des eigenen Stadions aus unerfindlichen Gründen urplötzlich einer Mondlandschaft glich, fand man im gut 50 Kilometer entfernten Zestafoni einmal mehr einen geeigneten Alternativ-Spielort. Vor Anpfiff der Partie war die Ausgangslage klar. Der Tabellen-Fünfte FC Samgurali hätte mit einem Sieg auf die Europapokal-Plätze der Erovnuli Liga vorrücken und Gegner Samtredia im eh schon anspruchsvollen Abstiegskampf einen empfindlichen Dämpfer versetzen können. Aber wie so oft kam es letztlich ganz anders.
In einem unterhaltsamen Spiel stürmte der FC Samgurali kopflos nach vorne und lud die Gäste aus Samtredia immer wieder zum Kontern ein. Die sagten artig Danke und schenkten den verzweifelnden Spielern des FC Samgurali in aller Seelenruhe drei Tore ein. Deshalb war der überraschende 3:0 (2:0)-Sieg des Abstiegskandidaten durch Tore von Pavisic (4.), einem Eigentor von Kalandarishvili (23.) und Mishov (66.) am Ende dann auch hochverdient. Einzig die Zuschauerzahl von nur 100 Zuschauern war schon etwas enttäuschend. Aber was will man an einem Mittwoch mit 30 Grad Außentemperatur und einer ungewöhnlichen Anstoßzeit um 15.30 Uhr auch erwarten?
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