Als Bundestrainer Rudi Völler vor ziemlich genau 20 Jahren das ARD-Studio im isländischen Nationalstadion „Laugardalsvöllur“ betrat, wusste er vermutlich noch nicht, dass er nur wenig später für das vielleicht legendärste Interview in der Geschichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft sorgen wird.

Nach einem durchaus dünnen 0:0-Unentschieden gegen den vermeintlichen Fußballzwerg Island in der Qualifikation zur Europameisterschaft 2004 fühlte sich „Tante Käthe“ von der „Tiefpunkt“-Expertise der Kommentatoren Gerhard Delling und Günther Netzer derart provoziert, dass er dem „lockeren“ Moderator Waldemar Hartmann nach einer Schimpftirade unterstellte, vor dem Interview drei Weizenbier genossen zu haben.

Vielleicht wäre dieses erinnerungswürdige Gespräch schon damals anders gelaufen, wenn alle Beteiligten gewusst hätten, wo die Entwicklung des isländischen Fußballs nur wenig später hingehen sollte.

Obwohl der Inselstaat im Nordatlantik flächenmäßig ungefähr so groß wie ein Zusammenschluss der bevölkerungsreichen deutschen Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern mit ihren insgesamt 24 Millionen Einwohnern ist, leben in Island auf diesem Gebiet nur knapp 390.000 Menschen.

Deshalb ist es umso bemerkenswerter, dass sich die isländische Nationalmannschaft mit ihren robusten und gut ausgebildeten Spielern mittlerweile auf Augenhöhe mit Nationalmannschaften wie Serbien, Schweden oder Schottland befindet. Absoluter Höhepunkt der isländischen Leistungsexplosion waren die Teilnahmen an den Endrunden der Fußball-Europameisterschaft 2016 sowie der darauf folgenden Weltmeisterschaft 2018. Wohlgemerkt als einwohnertechnisch kleinstes Land, das je die Endrunde einer WM erreichen konnte!

Während die Mannschaft um Kapitän Aron Gunnarsson bei der EM in Frankreich das Viertelfinale erreichen konnte, scheiterte man bei der WM in Russland bereits in der Vorrunde. Trotzdem konnte man sich mit Hilfe der eigenen Fans nachhaltig im Langzeit-Gedächtnis eines jeden Fußball-Liebhabers verankern. Die Kombination aus dem lauten Schlachtruf „HUH“ und rhythmischem Klatschen schaffte es in der Folge in fast jeden Stadionwinkel Europas.

Was aber hat Islands erste Liga sportlich zu bieten? Steht das isländische Fußball-Oberhaus vielleicht sogar vor einer ähnlichen Entwicklung wie die Nationalmannschaft?

Vermutlich nicht, da momentan kein einziger Nationalspieler Islands bei einem der 12 Erstliga-Clubs der sogenannten Besta Deildin aktiv ist. Trotzdem fällt auf, dass die Verantwortlichen der isländischen Erstligisten vornehmlich auf einheimische Spieler setzen und damit eine frühzeitige Entwicklung und Qualifikation für höhere Aufgaben im Ausland einläuten. Dass sich die „Besta Deildin“ eher als Ausbildungs-Liga versteht und ihre begrenzten finanziellen Ressourcen für heimische Talente verwendet, sieht man an der Anzahl der in Island tätigen Legionäre. In der gesamten Liga spielen nur 44 ausländische Spieler, welche zudem zu großen Teilen aus nordischen Nachbarländern wie Dänemark oder den Färöer Inseln stammen. Dies entspricht übrigens einem durchschnittlichen Anteil von 3,66 Spielern pro Team…im internationalen Vergleich weist die finanzstarke Bundesliga mit 275 ausländischen Spielern einen durchschnittlichen Anteil von 15,27 Legionären pro Club auf.

Leider schlägt sich dieses durchaus bodenständige Ausbildungsmodell überhaupt nicht auf den sportlichen Erfolg der isländischen Fußballclubs nieder. Während die Nationalmannschaft in der UEFA Nations League mit ihren fertigen Spielern direkt hinter den großen Fußballnationen in die B-Gruppe einsortiert wurde, hat es ein isländischer Club noch nie in die Gruppenphase der drei europäischen Fußballwettbewerbe geschafft. Dementsprechend steht der isländische Vereinsfussball in der UEFA-Fünfjahreswertung nur auf einem fast schon enttäuschenden 48. Rang. Allerdings beweist die Besta Deildin in jeder Saison, was mit ausgeglichenen Mannschaftskadern, einer ausgewogenen Talentförderung und ähnlichen finanziellen Mitteln möglich sein kann…nämlich eine offene und spannende Liga, in der jeder Meister werden kann. In den vergangenen zehn Jahren gab es sechs verschiedene Meister…das würde sich so mancher deutsche Fußballfan vermutlich auch wünschen!

Mein Auftaktspiel in Island war ein Duell zwischen zwei Clubs aus der unteren Tabellenhälfte. Hier traf Aufsteiger Íþróttafélagið Fylkir auf die Mannschaft von IBV Vestmannaeyjar von den Westmänner-Inseln.

Der am 28. Mai 1967 gegründete Club aus dem Osten der Hauptstadt Reykjavik feierte am Spieltag seinen 56. Geburtstag und versprühte bei meiner Ankunft am Stadion „Fylkisvöllur“ etwas, was ich bei allen Spielen in Island erleben durfte: Normalität und Gelassenheit!

Auch wenn man die deutsche Fußballwelt mit Sicherheit nicht mit dem isländischen Fußball-Kosmos vergleichen kann, tat es irgendwie gut, dass die üblichen Probleme wie eine nervenraubende Stadionanfahrt, die aussichtslose Parkplatzsuche und der oft komplexe Ticketkauf in Island überhaupt nicht existieren. Dazu gesellen sich sympathische Menschen, die keine Lust auf Nebenkriegsschauplätze besitzen und einzig wegen des Spieles ins Stadion gehen!

Vor 443 Zuschauern ging der Gast von den Westmänner-Inseln auf dem Fylkir-Kunstrasen in der 10. Minute durch Kapitän Hilmarsson in Führung. Bei schwierigen Wetterverhältnissen mit Dauerregen und starkem Wind gelang den Gastgebern etwas überraschend der Ausgleich, als Stefansson nach einem Eckball mutterseelenallein am langen Pfosten wartete und den Ball nur noch über die Linie drücken musste (30.)!

Obwohl die Gäste von IBV lange Zeit die optisch überlegene Mannschaft stellten, mussten sie in der 54. Minute den spielentscheidenden Treffer schlucken, als Borgthorssons Fernschuss unhaltbar ins Tor abgefälscht wurde.

Durch die 1:2-Niederlage rutschen die Gäste auf den letzten Tabellenplatz ab. Auch wenn sich das Spiel insgesamt auf unterem Regionalliga-Niveau bewegte, hatte ich richtig Lust auf die weiteren geplanten Spiele!

Die Spieler von IF Fylkir und IBV

Aufgrund der Konzentration von gleich mehreren Vereinen gelten viele europäische Hauptstädte als fußballerisches Zentrum des jeweiligen Landes. Auch in der isländischen Kapitale Reykjavik schlägt das Herz des heimischen Fußballs, da insgesamt neun der zwölf Erstligisten aus der Hauptstadtregion kommen.

Mit dieser Zahl überbietet man in der Saison 2022/2023 sogar die weitaus größeren Weltstädte London und Istanbul, in welchen „nur“ sieben bzw. acht Erstligisten um den Meistertitel spielen.

Dementsprechend war es mit einer halben Stunde Zeit im Gepäck auch gar kein größeres Problem, nach dem Spiel bei IF Fylkir noch ein zweites Match der Besta Deildin unter die Lupe zu nehmen.

Die knapp 15-minütige Fahrt führte mich in die südlich von Reykjavik gelegene Stadt Hafnarfjördur, welche mit ihren fast 30.000 Einwohnern „auf dem Papier“ zwar eigenständig erscheint, letztlich aber zusammen mit Islands zweitgrösster Stadt Kopavogur und zwei weiteren Gemeinden eben diese zusammenhängende Hauptstadtregion bildet. Nebenbei bemerkt eine Region, in der über 60 Prozent der Gesamtbevölkerung Islands leben!

Der Name des örtlichen Fußballclubs FH Hafnarfjörður hat sich seit der Europapokal-Auslosung der Saison 2004/2005 in mein Gehirn eingebrannt! Dies liegt am großen Lospech meines favorisierten VfL Bochum 1848, welcher in dieser Saison im UEFA-Cup startete und als gesetzter Vertreter mit Standard Lüttich den vermeintlich besten ungesetzten Club an Land zog. Das Duell mit dem belgischen Spitzenclub stand übrigens in krassem Gegensatz zum zugelosten Gegner des deutschen Pokalfinalisten Alemannia Aachen, welcher als Zweitligist ebenfalls gesetzt war und seinen Fans die landschaftlich wertvolle Reise zu den wackeren Mannen von FH Hafnarfjördur gönnen konnte.

Nun ja, das Ende dürfte bekannt sein. Während der VfL mit der späten Ich-trete-über-den-Ball-Aktion eines gewissen Eduardo Goncalves de Oliveira dramatisch ausschied, gewannen die Aachener im Schongang mit 5:1 auf Island und zogen in die Gruppenphase des Wettbewerbs ein. Ich habe mich jedenfalls häufig gefragt, warum man mit dem stärksten ungesetzten Gegner und dem Reiseziel soviel Pech auf einmal haben konnte.

Während ich also noch lange Zeit über Pech und Glück im Fussball sinnieren durfte, entwickelte sich der 1929 gegründete Club FH zu einer der besten Adressen im isländischen Fußball. Beginnend mit dem Meistertitel im Jahr 2004 konnte man in der Folge noch weitere siebenmal die Meisterschaft gewinnen. Leider wurden die internationalen Auftritte in den europäischen Pokalwettbewerben nicht wirklich besser. In insgesamt 43 Spielen gelangen gegen Linfield Football Club (Nordirland, 1994/1995), Dunfermline Athletic (Schottland, 2004/2005), IF Elfsborg (Schweden, 2014/2015) und HB Torshavn (Färöer Inseln, 2007/2008) lediglich vier Siege!

In der Gegenwart befindet sich FH als Tabellen-Fünfter zwar in Schlagdistanz zu den Europapokal-Plätzen, hatte aber vor dem 9. Spieltag schon satte elf Punkte Abstand auf Spitzenreiter Vikingur Reykjavik. Dementsprechend musste im Duell mit dem punktgleichen Aufsteiger HK Kopavogur auf Tabellenplatz vier unbedingt ein Sieg her.

Nach meiner Ankunft am Stadion „Kaplakriki“ durfte ich feststellen, dass der Club bei seiner positiven Entwicklung nicht nur in Füße, sondern auch in die Infrastruktur investierte. Das Stadion mit einem Fassungsvermögen von knapp 5.000 Zuschauern besaß sogar einen für Island eher unüblichen Fanshop und eine wirklich schicke Haupttribüne.

Vor über 1000 Zuschauern entwickelte sich auf dem lädierten und tiefen Naturrasen ein völlig wildes Spiel mit unzähligen Torchancen. Bis zum Halbzeitpfiff von Schiedsrichter Eiriksson konnte FH die zweifache Gästeführung jeweils ausgleichen und war für den Verlauf der zweiten Halbzeit sicherlich optimistisch eingestellt. Zwei Minuten nach Wiederanpfiff wich allerdings die gute FH-Laune, als HK-Akteur Wöhler die Gäste mit einem sehenswerten Distanzschuss erneut mit 3:2 in Führung brachte.

Die FH-Mannschaft von Coach Heimir Gudjonsson zeigte sich aber nicht beeindruckt und drehte das Spiel durch die Tore von Gudbrandsson (58.) und Björnsson (70.). Letztlich siegte FH mühsam mit 4:3 (2:2) gegen einen tapferen Aufsteiger, welcher allerdings auch in so ziemlich allen Statistiken hinten lag. Allein bei der Torschuss-Statistik zeigte man eine unfassbare Effektivität, lag aber auch deutlich mit 3:10 zurück!

Mit dem Sieg stellte FH den Anschluss an die Spitze her. Ob das am Ende tatsächlich für einen Platz an der (Europapokal-)Sonne reicht, wird man am Ende des laufenden Jahres sehen. Denn Island spielt sein Fußballjahr im Kalenderjahr-Modus!

Von den ersten zwei isländischen Stationen bei IF Fylkir und FH Hafnarfjördur findet Ihr bewegte Story-Bilder und weitere Fotos in meinen sozialen Netzwerken bei Facebook und Instagram. Lasst mir gerne ein „Like“ da, natürlich aber auch nur dann, wenn es wirklich gefällt. Für Anregungen und Kritik steht die Kommentar-Funktion unter dem Blog zur Verfügung.

STAY TUNED…BLEIBT MIR GEWOGEN!

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