Wenn man in Europa die erfolgreichste und beliebteste Fußball-Mannschaft eines Landes in Aktion erleben möchte, reicht fast immer ein Ausflug in die jeweilige Hauptstadt aus. Denn hier sind die „Capitals“ im Vergleich zu den „Konkurrenten vom Lande“ speziell in den Bereichen Infrastruktur, Lebensqualität und Finanzkraft oftmals besser aufgestellt.
Zahlungskräftige Sponsoren, ein vergleichsweise modernes Stadion, eine große Anhängerschaft und nicht zuletzt ein attraktives Lifestyle sind für Spieler im Prozess der Entscheidungsfindung insbesondere in vielen kleineren Ländern ein unbesiegbarer Standortvorteil! Kurioserweise spielt dieser „Vorteil“ in den großen Fußballnationen wie England und Deutschland nicht unbedingt die Hauptrolle. Während London aufgrund seiner vielen Vereine wenigstens gelegentlich den Meistertitel feiern kann, dürften sich in Berlin nur die älteren Semester an eine Meisterfeier erinnern. Die Mannschaft von Hertha BSC gewann die Schale zuletzt im Jahr 1931!
Auch ich habe mich in den letzten Wochen dabei ertappt, dass ich auf dem überwiegenden Teil meiner UEFA55-Abenteuer den vermeintlich einfachsten Weg gegangen bin. Dies liegt daran, dass man gerade als Fußballreisender die Hauptstadt mit dem besten Club des Landes als besucht „abhaken“ möchte und für etwas mehr keine Zeit hat. Schließlich schmeckt ein abendliches Bier in Riga, Tallinn, Kopenhagen oder Helsinki atmosphärisch besser als in Ventspils, Tartu, Silkeborg oder Turku…auch wenn ich diesen Städten nicht zu nahe treten möchte.
Für die anstehende Episode in Serbien wollte ich mal wieder raus aus der Komfortzone und Fußball außerhalb der Hauptstadt schauen. Also ein richtiges Abenteuer…in einem für mich nahezu unbekannten Land als „Roadtrip“ verpackt!
Trotz der guten Vorsätze war dies rückblickend einmal mehr nicht ganz einfach. Dies lag zunächst an den sehr kurzfristig terminierten Spielen der „Linglong Tire-Super Liga“, welche dann doch drei Tage vor dem Wochenende die exakten Anstoßzeiten veröffentlichte…und selbst danach gab es noch einen kurzfristigen Tausch von Sonntagsspiel auf späten Samstagabend! Ja, ich weiss, mit diesem Liga-Namen setzt sich das ehemalige Bundesland Jugoslawiens vermutlich an die Spitze der lustigsten Sponsorennamen Europas und wird nicht einmal ansatzweise von der Tipico-Bundesliga, der Lotto-Ekstraklasa oder der Raiffeisen-Super League übertroffen.
Wie auch immer, aufgrund der lange unklaren Terminierungen war die serbische Hauptstadt Belgrad wegen ihrer geografischen Lage im Zentrum des Landes ein optimaler Ausgangspunkt für Reisen durch das ehemalige jugoslawische Staatsgebiet!
Nach einem ersten zaghaften Sightseeing-Programm in Belgrad und einer Militärparade vor meinem Hotel ging es mit dem Mietwagen in Serbiens zweitgrösste Stadt Novi Sad, welche über die hervorragend ausgebaute, aber auch mautpflichtige, Autobahn A1 innerhalb einer guten Stunde erreichbar ist.
Am 8. Spieltag der chinesischen Reifenliga 2019/2020 traf der einheimische FK Proleter Novi Sad auf den serbischen Europa-League-Teilnehmer FK Partizan Belgrad, mit 27 Meistertiteln immerhin der zweiterfolgreichste Club des Landes.
Am Stadion Karadorde war bei meiner Ankunft „richtig was los“. Erste Hoffnungen auf einen überragenden Support bzw. überdurchschnittlichen Besuch des Spieles zerschlugen sich aber relativ schnell. Der Großteil der vielen Menschen nahm als Zuschauer an dem neben dem Stadion stattfindenden Skate-Halfpipe-Turnier teil, wo durchweg coole Musik gespielt und kostenlose Sprite Zero-Dosen verschenkt wurden. Zudem befand sich neben dem Stadion die vermeintlich modernste und angesagteste Shopping-Mall der Stadt, welche natürlich auch den einen oder anderen Einkaufswütigen anzog.
Bei Anpfiff von Schiedsrichter Bojan Nikolic fanden sich dann doch gut 2000 Zuschauer im Stadion Karadorde ein. Diesbezüglich muss man festhalten, dass der Heimverein FK Proleter erst zur vergangenen Saison in die erste serbische Liga aufstieg und nach dem weitaus bekannteren bzw. erfolgreicheren FK Vojvodina sportlich auch nur die zweite Kraft Novi Sad’s darstellt. Da man dementsprechend auch kein geeignetes Stadion für Erstliga-Spiele besitzt, nutzte der „Fudbalski Klub“ für das Spiel gegen den Belgrader Hauptstadtclub das Stadion des „großen“ lokalen Konkurrenten.
Das bereits angesprochene Stadion Karadorde fasst insgesamt gut 15.000 Zuschauer und ist so eine richtig schöne alte und charmante Kiste! Leider fand man bei dem Spiel so gar nichts, was auf den FK Proleter Novi Sad hinwies. Überall prangte das Wappen des Konkurrenten, ein Fanshop oder auch nur Tapeziertisch mit beschränkter Auswahl von Fanartikeln war nicht existent und auch eine geschlossene Fangruppierung der Gastgeber sollte von mir nicht ausgemacht werden.
Genau deshalb wurde es für die Mannschaft des FK Proleter ein Auswärtsspiel im „heimischen“ Exil-Stadion. Während man in der ersten Hälfte richtig gut verteidigte und mit der 5-4-1-Formation eine defensiv reife und stabile Leistung anbot, ging es in der 2. Hälfte rapide bergab.
Der UEFA Europa League-Teilnehmer aus Belgrad wechselte in Person von Trainer Savo Milosevic (als Spieler u.a. bei RCD Espanyol de Barcelona und Aston Villa FC) die zuvor geschonten Starspieler ein und fuhr am Ende einen völlig ungefährdeten 3:0 (0:0)-Sieg ein. Bei den Toren des ehemaligen Kölners Zoran Tosic, des nigerianischen Nationalspielers Umar Sadiq sowie Lazar Markovic (ehemals Liverpool FC) konnte man sehr gut erkennen, wie die Sympathien der Zuschauer verteilt waren. Von den 2000 Zuschauern waren mindestens 1800 Menschen für das Auswärtsteam. Habe ich in diesem Maß auch noch nicht gesehen!
Bevor es am folgenden Tag zum nächsten „Ground“ ging, schaute ich mir die 300.000-Einwohner-Stadt Novi Sad im Rahmen eines intensiven Stadtrundganges an. Obwohl die Stadt jetzt nicht die Masse an Sehenswürdigkeiten aufweisen kann, sind die vorhandenen Highlights in die Kategorie „Qualität statt Quantität“ einzuordnen!
Der absolute Kracher ist die Festung Petrovaradin, die am Ufer der Donau über der gesamten Stadt thront…nach einem recht beschwerlichen Aufstieg gibt’s hier den ultimativen Blick über Novi Sad und die an dieser Stelle recht ausgedehnte Donau! Aber auch der restaurierte Innenstadtkern von Novi Sad lädt zu jeder Tageszeit zum Verweilen ein…beginnend an der Maria-Kirche am „Miletic-Square“ gibt es auf der Einkaufsstraße „Dunavska“ unzählige Kneipen, Cafés und Gaststätten!
Während das erste „serbische Spiel“ in Novi Sad somit mit gutem Gewissen in die Kategorie „Großstadtrevier“ eingestuft werden konnte, erfolgte nur einen Tag später das absolute Kontrastprogramm.
Hierzu ging es nach dem Besuch der Festung Petrovaradin nachmittags zurück auf die Piste…wieder die Autobahn A1…weiter gen Norden in Fahrtrichtung Subotica! Nach gut 45 Minuten Fahrt war der Zielort erreicht:
Backa Topola, eine Kleinstadt mit gut 16.000 Einwohnern, die nur knapp 40 Kilometer von der serbisch-ungarischen Grenze entfernt ist.
Der örtliche Fußballclub FK TSC Backa Topola ist vor dieser Saison erstmals in die erste serbische Fußball-Liga aufgestiegen und stand nach sieben Spieltagen mehr oder minder sensationell an der Tabellenspitze der „Ling Long Tire Super Liga“. Für mich Grund genug, diesen im Jahr 1913 gegründeten Verein einmal näher unter die Lupe zu nehmen und zu beleuchten, warum ein kleiner Aufsteiger die arrivierten serbischen Teams aus dem Nichts regelrecht aufmischt.
Bevor es jetzt aber ausschließlich um Fußball geht, komme ich in meiner kleinen Vorstellungsrunde des TSC Backa Topola an einem Mindestmaß von Erdkunde, Politik und vor allem Geschichte nicht vorbei. Im Norden Serbiens befindet sich die autonome Provinz „Vojvodina“, welche bis zum Jahr 1848 und von 1860 bis zum Ende des 1. Weltkriegs im Jahr 1918 dem ungarischen Königreich sowie der österreichisch-ungarischen Monarchie angehörte. Dementsprechend dürfte es nicht verwunderlich sein, dass die Provinz noch heute über eine sehr große ungarische Community verfügt. Allein in Backa Topola liegt der ungarische Bevölkerungsanteil bei knapp 60 Prozent.
Obwohl der örtliche Fußballverein mit den früheren Namen JAK (Jugoslowenischer Athletikclub) und FK AIK Backa Topola als grössten sportlichen Erfolg „nur“ eine Teilnahme an der zweiten jugoslawischen Liga (1980-1984 und 1985/1986) vermelden konnte, war der Club in den folgenden Jahren für seine gute Jugendarbeit bekannt.
Während die Senioren-Mannschaft in den 1990er-Jahren und Anfang des Jahrtausends ein Schattendasein in der dritten serbischen Liga fristete, war die Jugendabteilung des TSC sehr viel erfolgreicher. Sie brachte die beiden in Backa Topola geborenen Stürmer Nikola Zigic (früher u.a. CF Valencia und Birmingham City FC) und Dusan Tadic (aktueller Weltklasse-Stürmer des AFC Ajax) hervor.
Mit Unterstützung von vielen lokalen Sponsoren und einer großzügig angelegten finanziellen Unterstützung des ungarischen Fußballverbandes wurden mit dem diesjährigen und erstmaligen Aufstieg in die höchste Liga Serbiens neue nachhaltige Strukturen und offensichtlich auch Visionen geschaffen.
Die angesprochene Nachhaltigkeit konnte ich am eigenen Leib hautnah erleben. Nach meiner Ankunft in Backa Topola und dem Besuch der örtlichen Eisdiele „Europa“ spazierte ich ganz gemütlich zum knapp 500 Meter entfernten Stadion „Gradski“, welches ein theoretisches Fassungsvermögen von 6000 Zuschauern besitzen sollte.
Auf dem Fußweg kamen bereits erste Zweifel auf, ob ich wirklich am richtigen Ort bin. Sicher hatte ich noch gut 1 1/2 Stunden Zeit bis zum Spielbeginn, aber warum war hier so überhaupt kein Mensch auf der Straße? Nach Ankunft am Stadion war es klar…da wo sich eigentlich eine grüne Wiese befinden und eine in die Jahre gekommenen Tribüne stehen sollte, war eine große eingezäunte Baustelle mit den beliebten gelben Baggern.
Hierbei handelte es sich um den Stadionneubau des Clubs…bis zur kommenden Saison will man ein hochmodernes Stadion mit einem ausreichenden Fassungsvermögen von 4000 Zuschauern errichten, welches sogar Spiele auf UEFA-Level ermöglichen könnte.
Was sich gut anhört, brachte mich in diesem Moment aber nicht weiter! Mein Herzschlag stieg jedenfalls, da ich nicht wirklich wusste, wo ich jetzt hin muss. Da ich vor Ort aufgrund fehlender Passanten auch niemand fragen konnte hieß es „Ruhe bewahren, Roaming einschalten“ und die bekannten einschlägigen Internet-Medien anzapfen. Nach einer kurzen Suche war alles klar. Das Spiel fand im 39 Kilometer entfernten „Aushilfs-Stadion“ des FK Senta in der Ortschaft Senta statt. Obwohl der Weg nur über eine Landstraße zurückzulegen war, hatte ich noch genug Zeit und erreichte rechtzeitig den Ground.
Der Tabellenführer TSC Backa Topola empfing am 8. Spieltag der Ling Long Tire Super Liga 2019/2020 den bis dato abgeschlagenen Tabellenletzten FK Macva Sabac.
Das Stadion bestand aus einem Funktionsgebäude sowie einer kleinen Haupt- und Gegentribüne. Der hermetisch abgeriegelte Gästeblock, welcher auf Anforderung des serbischen Fußballverbandes errichtet werden musste, blieb an diesem Tag leer. Offensichtlich hatten die Fans aus dem 143 km entfernten Sabac so gar keine Lust auf den Kick.
Die gut 1000 Zuschauer sahen in der Folge ein Spiel, dass die Gastgeber während der 90 Minuten durchgehend dominierten. Immer wieder rollte die Angriffswelle auf das Tor von Sabac-Keeper Dusan Puletic zu. Egal, was die TSC-Mannschaft von Trainer Zoltan Szabo auch machte, der Mann im gelben Sweater mit der Rückennummer 55 entschärfte wirklich alle gefährlichen Situationen.
Dazu hatte der Keeper auch noch das Glück des Tüchtigen…zweimal half dem geschlagenen 30jährigen die Querlatte.
Dass es ein Tag beider Torhüter wurde, zeigte der faktisch ungeprüfte TSC-Keeper Nenad Filipovic drei Minuten vor dem Ende…Gästestürmer Marinkovic tauchte bei einem der seltenen Konter mutterseelenallein vor dem Tor des TSC auf und hatte die ultimative Chance, den Spielverlauf auf den Kopf zu stellen…tat er aber nicht, da sein guter Abschluss durch Filipovic entschärft wurde. So blieb es aus Sicht der Gastgeber trotz 75 Prozent Ballbesitz beim torlosen Unentschieden.
Ich wünsche dem Club für die Zukunft alles Gute und kann mir lebhaft vorstellen, dass das neue Stadion bereits in der kommenden UEFA Europa League-Qualifiaktion eingeweiht wird! Mein spezieller Dank geht an den Vereinsverantwortlichen Huba Tolgyesi, welcher mir die Möglichkeit für ein paar schöne Fotos gegeben hat!
Aus dem Norden Serbiens ging es nach Spielende zurück in die Hauptstadt Belgrad! Hier habe ich mich in Sachen Sightseeing möglicherweise ein bisschen verkalkuliert! Im Gegensatz zu vielen anderen Städten ist die Stadt recht weitläufig und besitzt kein bequemes U-Bahn-System. Bedeutet am Ende des Tages, dass man die teilweise weit auseinander liegenden Sehenswürdigkeiten mit dem eher komplizierten, zeitraubenden und undurchschaubaren Bus- und Straßenbahnnetz „bezwingen“ muss. Eine gute Alternative stellt hier, wie in fast allen südeuropäischen Metropolen, das vergleichsweise günstige und im Prinzip immer verfügbare Taxi dar.
Zudem muss ich mir eingestehen, dass ich Belgrad in Bezug auf Sightseeing weitaus „grauer“ erwartet hätte. Weit gefehlt, Belgrad ist eine interessante, pulsierende und lebensfrohe Hauptstadt, in der es viel zu sehen gibt und ein erhöhter Zeitaufwand benötigt wird. Am Ende konnte ich die wichtigsten Sehenswürdigkeiten wie die Festung von Belgrad mit dem angrenzenden Park „Kalemegdan“, die Innenstadt mit ihrer Hauptstraße „Knez Mihailova“, den Dom des „Heiligen Sava“ oder auch das kommunistische Hochhausdenkmal „Genex“ besuchen. Selbst für eine kurze Stadiontour bei „Roter Stern“ oder „Partizan“ war noch ein wenig Zeit!
Das war der erste Teil meines Abenteuers in Serbien und Montenegro. Aus Belgrad ging die Reise weiter in Richtung Montenegro…mit einem Nachtzug!
In meinem Instagram-Account https://www.instagram.com/Henning_loves_football/ gibt es wie gewohnt noch viele zusätzliche Eindrücke aus Serbien mit bewegten Bildern in der Story! Schaut mal rein!
STAY TUNED 🍀👍🏻❤️⚽️