Mein ganz persönlicher Rückblick auf die Aufstiegssaison des VfL Bochum 1848 beginnt bereits im Januar des Jahres 2020. 

Zu diesem Zeitpunkt spielte der Tabellendreizehnte der ewigen Bundesligatabelle, der sich mit bescheidenen finanziellen Mitteln insgesamt 34 Erstligajahre erkämpfte und sogar zweimal am prestigeträchtigen UEFA-Europapokal teilnehmen konnte, im mittlerweile zehnten Jahr in Folge nur in der 2. Fußball-Bundesliga.

Obwohl ich mich mit der dauerhaften sportlichen Existenz im Bundesliga-Unterhaus und den frühen Anstoßzeiten zum Mittagessen mittlerweile anfreunden konnte, gab es im Verlauf der Jahre immer wieder Situationen, die unendlich weh taten und tief versteckte Sehnsüchte nach der guten alten Bundesligazeit im Herz weckten. 

Während die langjährigen Bundesligarivalen aus Schalke und Dortmund mit ihren gestiegenen finanziellen Möglichkeiten und dem damit verbundenen sportlichen Erfolg recht schnell in andere (Fußball-) Dimensionen vorstießen und für den Bochumer Nachbarn nur noch ein müdes Lächeln der Wahrnehmung besaßen, holten die so genannten Dorfclubs aus dem finanzstarken Süden Deutschlands mit guten Konzepten und klugem Sponsoring kontinuierlich auf und waren nach dem Aufstieg in die 2. Fußball Bundesliga urplötzlich auf Augenhöhe mit dem stolzen Traditionsclub von der Castroper Straße.

Dementsprechend konnte man im Ruhrstadion immer öfter eine überschaubare Anzahl von Mitmenschen wahrnehmen, die im fast leeren Gästeblock einen nahezu sensationellen Auswärtssieg beim ehemaligen Bundesligisten und vermeintlichen Favoriten feierte und sich nach einer „Mini-Polonaise“ mit dem bereit gestellten Kleinbus auf die lange Fahrt nach Sandhausen, Heidenheim oder Aalen aufmachte.

Mit diesen bitteren Erlebnissen veränderte sich natürlich auch das Anspruchsdenken der blau-weissen Fangemeinde in eine Richtung, die mit Optimismus oder Aufbruchstimmung nicht mehr viel zu tun hatte und eher in Richtung Gleichgültigkeit und Pessimismus pendelte. Statt eines immer wieder erträumten Wiederaufstiegs in die Bundesliga musste man sich in den Folgejahren eingestehen, dass man nicht nur zurecht in der 2. Liga spielte, sondern auch mit ganz viel Glück nicht noch weiter absackte. Mit Sicherheit war man nicht mehr der gefühlte Erstligist, auf den man eine Etage höher nur warten würde.

Auch im bereits angesprochenen Januar 2020 war mal wieder sportliche Tristesse angesagt. Trotz der optimistischen Prognose auf einen ruhigen Saisonverlauf im oberen Mittelfeld zeigte sich der qualitativ ausgeglichene Kader des VfL in den ersten Spielen der Saison äußerst nerven- und vor allem defensivschwach. Dazu gesellte sich mit Robin Dutt ein geschätzter und anerkannter Trainer, der bereits nach einem 3:3-Remis gegen Aufsteiger SV Wehen Wiesbaden am 4. Spieltag in der anschließenden Pressekonferenz äußerst rat- bzw. mutlos wirkte und nur wenig später gehen musste. Nach einer kurzen Übergangsphase mit Interimscoach Heiko Butscher übernahm der heutige Trainer Thomas Reis zum Auswärtsauftritt in Sandhausen am 7. Spieltag das Ruder…eine Verpflichtung, die in den einschlägigen Fanforen durchaus kritisch und wenig zukunftsfähig gesehen wurde.

Nach einem 0:3-Halbzeitrückstand konnte der VfL gegen Wehen noch ausgleichen

Bis zur Winterpause war Thomas Reis mit siebzehn Punkten aus zwölf Spielen punktetechnisch zwar voll im Soll, konnte aber aufgrund einer äußerst ausgeglichenen Tabellensituation überhaupt keine Aufbruchstimmung oder gar Euphorie erzeugen. Bei Abreise ins spanische Wintertrainingslager von Jerez de la Frontera steckte die Mannschaft mit nur einem Punkt Vorsprung auf den ersten Abstiegsplatz mal wieder im Keller fest.

Dementsprechend sollte der Aufenthalt unter der wohltuenden spanischen Sonne einmal mehr als eine Art Neubeginn genutzt werden. Es gab zwei ordentliche Testspielauftritte gegen Fehervar FC und Dinamo Bukarest, jede Menge gute Laune im und um das Team herum, aber auch einige lustlose Spieler, die von Thomas Reis und seinem Trainerteam umgehend mit einer gehörigen Portion Straftraining angezählt wurden.

Obwohl es letztlich ein sehr stimmungsvolles Trainingslager war und sämtliche Beteiligte gebetsmühlenartig von der perfekten Vorbereitung auf die kommenden schweren Spiele sprachen, war ich immer noch etwas unsicher. Schließlich ist das vergangene Trainingslager immer das Beste.

Danny Blum im Testspiel gegen Dinamo Bukarest

Leider sollte sich meine Skepsis in den ersten sieben Pflichtspielen des Jahres 2020 komplett bestätigen. Die Mannschaft um Winterneuzugang Robert Zulj agierte mit zwei Siegen, zwei Unentschieden und drei Niederlagen weiterhin sehr durchschnittlich und stand nach dem 25. Spieltag nur noch drei Punkte vor dem Relegationsrang.

In diese latent vorhandene Abstiegsangst mit dauerhaften Bauchschmerzen mischte sich aber urplötzlich etwas ein, dass noch viel aggressiver agierte und mein gesamtes Leben bis zum heutigen Tag total verändern sollte. Der Corona-Virus, der die (Fußball-)Welt auf den Kopf stellte.

Mit der sofortigen Einstellung des öffentlichen Lebens war eine Kurzreise zu unseren mecklenburgischen, niedersächsischen oder bayrischen Nachbarn in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur verpönt, sondern auch ungefähr so schwierig wie eine Reise auf den Mond. Da auch das ganz normale zwischenmenschliche Beisammensein mit Kino, Theater, Kneipe oder Restaurant plötzlich nicht mehr existierte, war klar, dass auch der Sport mit seinen vollen Stadien, Arenen und Sporthallen nicht einfach weiter machen konnte. Auch mein König Fußball musste sich bis auf weiteres in eine längere Spielpause begeben. Und das im Frühling, der vielleicht besten Fußball-Zeit des Jahres, in der Entscheidungen fallen, positive und negative Emotionen gezeigt und Pokale in die Höhe gehalten werden.

Während viele Sportarten ihren Spielbetrieb bis zum heutigen Tag nicht wieder aufnehmen konnten, erhielt der Fußball nach zwei Monaten einen Sonderstatus, der in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert wurde. Auch wenn der VfL zu diesem Zeitpunkt weiterhin in höchster Abstiegsgefahr schwebte, war ich doch ein Befürworter des Re-Starts und der damit verbundenen Fortsetzung der Saison 2019/2020. Mit der Wiederaufnahme des Spielbetriebes sorgte Deutschlands Volkssport Nr. 1 trotz aller Widrigkeiten für ein bisschen Ablenkung in unseren Wohnzimmern.

Mit Aufnahme des Spielbetriebes Mitte Mai musste der VfL unter Thomas Reis noch neun Spiele zum Klassenerhalt bestreiten. Ich weiss bis zum heutigen Tag nicht wirklich, was sich in der kurzen Vorbereitungszeit, dem Quarantäne-Trainingslager oder Köpfen der Spieler in der damals noch ungewohnten „ersten Corona-Welle“ ereignete, aber es muss letztlich gepasst haben.

Der VfL zeigte urplötzlich völlig ungeahnte Offensiv-Qualitäten und eilte von Erfolg zu Erfolg. Speziell bei den Auftritten gegen Heidenheim, Kiel oder St.Pauli konnte man den Eindruck gewinnen, dass da eine völlig neue Mannschaft auf dem Feld stand. Am Ende holte Thomas Reis mit seiner Mannschaft aus den neun Spielen nicht nur fünf Siege, sondern krönte sich noch ganz nebenbei zur erfolgreichsten Mannschaft der 2. Fußball-Bundesliga nach dem Re-Start. Man war also der erste inoffizielle Zweitliga-Geisterspiel-Lockdown-Corona-Meister der Geschichte, ein Titel, der zu diesem Zeitpunkt gefühlsmäßig direkt hinter dem UEFA Europa-League-Pokal rangierte und den einen oder anderen Fanclub dazu veranlasste, das dazugehörige Sieges-T-Shirt mit der „Meisterfelge“ zu drucken. Ich war jedenfalls der festen Überzeugung, dass dieser Erfolg mit der ordentlichen Abschlussplatzierung auf dem achten Tabellenrang schon fast das Höchste der Gefühle sein musste.

Gut, diese Einschätzung war nach heutigem Kenntnisstand sicher falsch. Auch in der folgenden Saison spielte der punktuell veränderte Kader richtig guten Fußball. Obwohl man mit elf Punkten aus den ersten sieben Spielen recht ordentlich aus den Startlöchern kam, wurde ich das Gefühl nicht los, dass da aufgrund der dummen Niederlage in Braunschweig und den bitteren Heimunentschieden gegen St. Pauli und Osnabrück weitaus mehr möglich gewesen wäre. Trotz der etwas ausbaufähigen Punktausbeute konnte man bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Saison erkennen, dass irgendetwas anders als sonst war. Die Mannschaft spielte einen sehr schnörkellosen Fußball mit gefährlich schnellen Außenspielern, erschien stets fokussiert und vermittelte den Eindruck, auch bei Rückstand immer noch einen Gang hochschalten zu können.

Der erste ganz große Meilenstein zum Aufstieg sollte am 8. Spieltag gelegt werden. Nach einer völlig verdienten 0:2-Heimniederlage gegen überlegene Fürther musste der VfL zum ehemaligen Bundesliga-Dino Hamburger SV reisen. Der überzeugende 3:1-Auswärtssieg beim Aufstiegsfavoriten mit einem absoluten Traumtor von Danny Blum sollte der Auftakt einer unerwartet erfolgreichen Hinrunde mit dem 2. Tabellenplatz darstellen.

Auch in der Rückrunde, die sich Ende Januar ohne jegliche Winterpause anschloss, machte der VfL da weiter, wo er aufgehört hatte. Wo sonst, als in Hamburg folgte der nächste ganz wichtige Schritt in Richtung Aufstieg. Beim heimstarken FC St.Pauli, der in der Rückrundentabelle auf Platz vier landete, siegten die Bochumer in einem packenden Match mit 3:2 und setzten sich an der Tabellenspitze fest.

Nach den durchaus erfolgreichen „Wochen der Wahrheit“ im März/April mit den direkten Duellen gegen die Aufstiegskonkurrenten aus Fürth (2:1-Sieg), Hamburg (0:2-Niederlage) und Kiel (2:1-Sieg) sollte sich das wohl packendste Spiel der Saison am 18.04.2021 im Ruhrstadion ereignen.

An diesem Sonntag gab die Mannschaft von Hannover 96 ihre Visitenkarte an der Castroper Straße ab. Obwohl die Roten aus der niedersächsischen Landeshauptstadt zu diesem Zeitpunkt nur auf Platz 11 standen und aufgrund des sportlichen Misserfolges die übliche Trainerdiskussion zu verzeichnen hatten, war aus Bochumer Sicht absolute Vorsicht angesagt. Schließlich verfügte der Gegner von der Leine weiterhin über einen namhaften Erstligakader, mit dem er den Blau-Weißen in der Hinrunde klar die Grenzen aufzeigte. In einem mitreissenden Spiel konnten die Hannoveraner in der Nachspielzeit durch den ehemaligen Bochumer Philipp Ochs zum 3:3 ausgleichen. Im direkten Gegenzug erkämpfte sich der VfL noch einen Eckball, den Bochums Spieler der Saison, Robert Tesche, zum vielumjubelten 4:3-Siegtreffer einköpfte. Wer zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht an den Aufstieg glauben konnte, tat es spätestens jetzt.

Nach dem 5:1-Heimsieg gegen den SSV Jahn Regensburg im vorletzten Heimspiel und dem anschließenden Autokorso auf der Castroper Straße stieg die Aufstiegseuphorie rund um den VfL ins Unermessliche. Mit dieser Vorfreude und hohen Erwartungshaltung in der gesamten Stadt stieg auch bei mir die „positive“ Anspannung.

Aber gibt es überhaupt eine positive Anspannung? Mit ein paar Wochen Abstand kann ich ganz klar sagen, nein es gibt sie nicht. Zumindest bei mir nicht mehr. Die vielen Jahre als Fan des VfL Bochum 1848 haben mich geprägt. Zunächst immer erstklassig, dann unabsteigbar, dann als Fahrstuhlmannschaft zwischen erster und zweiter Liga unterwegs….“wir steigen auf, wir steigen ab und zwischendurch UEFA-Cup“, genau das war lange Jahre das Motto des Clubs. Deshalb hat man Ende der 90er-Jahre einen sofortigen Wiederaufstieg als normal angesehen. Es war keine besonders große Leistung, sondern das Mindeste was man erwarten durfte. Dazu gesellten sich düstere Legenden wie der erfolglose dunkle Bochumer Herbst und die angebliche Tatsache, dass der VfL in den ganz wichtigen Spielern immer versagt.

Und jetzt? Nach 11 Jahren zweiter Liga fühlte sich die Chance auf den Aufstieg wie ein Sechser im Lotto an. Nur mit dem Unterschied, dass man die Zahlen noch nicht ganz weiss. Alles fühlte sich so unwirklich an, sollten Zoller, Tesche und Riemann in der nächsten Saison wirklich gegen Bayern, Dortmund und Frankfurt statt Aue, Rostock und Ingolstadt spielen? Das geht doch gar nicht. Hier konnte man sehen, was 11 Jahre Sandhausen und Co. in meinem Geist angerichtet haben.

Den ersten Matchball zum Aufstieg erhielt die Mannschaft vonner Castroper am 33. Spieltag beim Auswärtsspiel in Nürnberg. Man musste nur gewinnen, mehr nicht, dann wäre der vorzeitige Aufstieg ohne den nervenaufreibenden Showdown am letzten Spieltag geschafft. Wer sich aber schon einmal näher mit dem VfL beschäftigt hat, der weiss, dass der VfL nicht mal eben so gewinnt. Dementsprechend war die Enttäuschung nach dem 1:1 schon riesengroß und gepaart mit den düsteren Legenden des typischen VfL-Versagens. Ich saß jedenfalls mit einem Kollegen im Auto, Blick aufs Ruhrstadion und so ziemlich jedes Medium in der Hand, das irgendwelche Erkenntnisse liefern könnte. Auf einem Handy lief der VfL mit zeitverzögerten Sky-Go-Bildern, auf dem anderen die Konkurrenten in der Kicker-App und um den Blutdruck mal richtig hoch zu fahren, Günther Pohl live bei Radio Bochum. Nach Abpfiff rauchte ich erstmal eine angebotene West-Zigarette, obwohl ich seit zwei Jahren Nichtraucher bin. Ist das noch positive Anspannung?

Und damit wären wir schon in der längsten Woche des Jahres. Die Woche zwischen dem 33. und 34. Spieltag fühlte sich an wie ein sechswöchiger Aufenthalt in der JVA Bochum, als Insasse wohlgemerkt.

Neben ganz wenig Schlaf machte ich mir nahezu stündlich Gedanken über die Tabellensituation, den mentalen Zustand der Konkurrenten aus Fürth und Kiel, rechnete alle möglichen Tabellen-Konstellationen auseinander und schaute sogar die Spieltags-Pressekonferenzen der Gegner an. Zudem musste ich mir eingestehen, dass die Schlüsselspieler der Konkurrenz auch nach einem Spiel keine gelbe oder rote Karte mehr erhalten und im entscheidenden Spiel gesperrt sein könnten. Wie ich es auch anging, es gab keinen anderen Lösungsansatz, als mich dem Showdown mit Zwischenergebnissen und ständiger Tabellenveränderung hinzugeben.

Am letzten Spieltag war die Anspannung so groß, dass ich mich vor Spielbeginn nicht mal mehr über Fußball unterhalten wollte. Die absolute Krönung war aber Grönemeyers WM-Song „Zeit, dass sich was dreht“, der bei Eintreffen am Ruhrstadion im Radio lief und etwas mehr als einen Kloß im Hals verursachte.

Glücklicherweise zeigten an diesem Tag nur die Konkurrenten des VfL Nerven. Die Mannschaft von Thomas Reis siegte zum Abschluss mit 3:1 (1:0) gegen den SV Sandhausen 1916 und stieg als Meister der 2. Fußball-Bundesliga in das Oberhaus auf. Spätestens nach dem Treffer zum 2:1 von Kapitän Anthony Losilla nahm mein Blutdruck wieder Normalform an und arrangierte sich mit den beruhigenden Glücksgefühlen.

Losilla trifft zum 2:1 gegen Sandhausen

Der sportliche Weg des VfL Bochum 1848 vom Januar 2020 bis zum Mai 2021 war ein modernes Fußballmärchen, welches man in dieser Form vermutlich nicht noch einmal erleben wird. Allein die Pokalübergabe der „Felge“ durch den ehemaligen VfL-Geschäftsführer und heutigen DFL-Direktor Ansgar Schwenken war ein absolutes Highlight.

Wer diesen Weg auf meiner Facebook-Seite verpasst hat, kann hier meine jeweiligen Spieltagsgedanken nachträglich einsehen. Zudem gibts die Bilder natürlich auf meinem Instagram-Kanal.

Ich bedanke mich für das entgegengebrachte Interesse und bleibe am Ball. Passt auf Euch auf und bleibt gesund….STAY TUNED!

Ruhe kehrt ein