Das „Fliegen“ hat im Vergleich zu den oft genannten „guten alten Zeiten“ viel an Reiz und vor allem Charme verloren…lange Warteschlangen an Sicherheitskontrolle und Check-In-Schaltern, überfüllte Terminals und immer weniger Service vermitteln mittlerweile eher das Gefühl, mit einem indischen Vorortzug in Mumbai unterwegs zu sein.

Trotzdem gibt es für mich immer wieder diese Augenblicke, die das Fliegen nach wie vor einzigartig machen! Gerade in den frühen Morgenstunden vermittelt so ein Rollfeld bei schönem Wetter und dem einsetzenden Sonnenaufgang eine spannende Aufbruchstimmung!

Genau so war es nach einer kurzen Nacht am Gatwick Airport, wo mein Airbus A319 der Fluggesellschaft easyJet an einem frühen Sonntagmorgen förmlich auf den Abflug in das britische Überseegebiet Gibraltar wartete.

Ungeachtet davon, dass ich häufig mit dem Flugzeug auf unserem Kontinent unterwegs bin, war der Flug zu meinem Lieblingsort Gibraltar etwas ganz besonderes. Das hat zunächst einmal mit der politischen Situation zu tun. Auf dem zivil genutzten Militärflughafen der Royal Air Force landen nur Maschinen aus dem „Mutterland“ Großbritannien sowie dem gegenüber liegenden nordafrikanischen Nachbarland Marokko. Obwohl Flugverbindungen in die spanische Hauptstadt Madrid definitiv hilfreich wären, werden diese speziell durch die spanische Regierung aufgrund der eigenen Besitzansprüche auf Gibraltar weiterhin abgelehnt.

Zudem ist der Landeanflug auf Gibraltar mit Sicherheit eine absolute Attraktion. Der alles überragende Affenfelsen „von oben“, die kurze Start- und Landebahn, oft auftretende Scherwinde und die berühmte Überquerung von Gibraltars Hauptverkehrsstraße „Winston Churchill Avenue“…mehr geht fast nicht! 

Nach 2 1/2 Stunden Flugzeit war es dann soweit…über Marbella ging es in den Sinkflug…raus aufs Mittelmeer…die zunächst klein wirkenden Container-Schiffe in der Straße von Gibraltar wurden immer größer…auf der linken Seite tauchte plötzlich der kolossale Affenfelsen auf…ein hartes Aufsetzen auf der Landebahn…eine recht starke Bremsung….Welcome to Gibraltar!

Zunächst gab es wie gewohnt ein recht knackiges Sightseeing-Programm. Obwohl ich bereits zum vierten Mal vor Ort war, fehlten mir noch ein paar wichtige Punkte für ein abschließendes Bild! Deshalb sollten der südlich gelegene Europa-Point, die Ostküste mit ihren verlassenen Stränden „Catalan Bay“ und „Sandy Bay“ sowie der eigentliche Ort „Gibraltar“ mit seinen engen Straßen und Gassen zunächst einmal Priorität genießen!

Zu Beginn der neuen Woche hieß es dann „It´s Matchday“! Am letzten Spieltag der European Qualifiers, der Qualifikation zur diesjährigen Europameisterschaft gab es das ultimative Duell „David gegen Goliath“!

In der Quali-Gruppe D traf das „kleine“ Gibraltar auf die „große“ Schweiz…also die Auswahl des mit 35.000 Einwohnern kleinen Stadtstaates gegen die „Nati“ der mehrsprachigen Eidgenossenschaft mit 8,5 Millionen Einwohnern!

Bevor es abends im altehrwürdigen Victoria-Stadion losging, war ich mittags noch von einem guten Freund zum Essen eingeladen. Als guter Gast bringt man da natürlich auch etwas mit…diesmal einen Wimpel meines VfL Bochum 1848!

Auf dem Weg zum Restaurant traf ich im Botanischen Garten völlig unvermittelt auf den gesamten Mannschaftskader der Schweiz…die Jungs um Kapitän Granit Xhaka führten den üblichen Entspannungs-Spaziergang vor dem Spiel gegen die „Gibbos“ durch. Insbesondere der jetzige Augsburger Außenverteidiger Stephan Lichtsteiner schaute mich im Vorbeigehen doch recht irritiert an. Kann ich insgesamt gut verstehen…er wird sicher darüber nachgedacht haben, warum ein Typ mit VfL-Bochum-Wimpel in der Hand dort Pflanzen und die auf dem Affenfelsen befindliche Hängebrücke fotografiert.

Am Abend rollte dann endlich der Ball…für die A-Nationalmannschaft Gibraltars das vorerst letzte Mal im Victoria Stadium! Das Stadion wird in Kürze abgerissen und durch eine neue moderne Arena mit einem Fassungsvermögen von 8.000 Zuschauern ersetzt!

Genau deshalb war das Stadion im Spiel gegen die Eidgenossen mit 2.079 Zuschauern restlos ausverkauft, alle wollten bei diesem historischen letzten Spiel im alten aber auch limitierten Ground dabei sein!

Bevor das Spiel durch den französischen Schiedsrichter Benoit Millot angepfiffen wurde, gab es natürlich beide Nationalhymnen. Das hat schon was, wenn sich die einheimische Mannschaft in Richtung Felsen dreht und die eigene Hymne mit der Textzeile „Gibraltar, Gibraltar, the Rock on which i stand, may you be forever free, Gibraltar my own Land“ lautstark einsingt!

Für den Spielausgang hatte ich natürlich insgeheim auf eine Sensation gehofft. Vielleicht war das blauäugig oder auch völlig unrealistisch, am Ende gewann die Schweizer „Nati“ durch Tore von Itten (2), Vargas, Fassnacht, Benito und Xhaka mit 6:1 (1:0). 

Was sich insgesamt deutlich anhört und am Ende auch so war, ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass die Gibraltar-Jungs des uruguayischen Trainers Julio Ribas gerade in der ersten Halbzeit immer gut mithalten und viele Spiele recht offen gestalten können…in der 2. Halbzeit aber zumeist große Kraft- und Konzentrationsmängel aufweisen und von ausgebufften Teams dann abgeschossen werden. 

Genau deshalb kann man auf die Leistung Gibraltars zu Recht sehr stolz sein! Man darf nie vergessen, dass die Jungs bestenfalls Halbprofis sind und meistens sogar nur als Amateur gegen den Ball treten. Da ist ein 1:6 gegen die aus Bundesliga- und Premier League-Spielern bestehende Schweizer „Nati“ gar kein so schlechtes Resultat…auch wenn an diesem Tag mit etwas mehr Konzentration eine knappere Niederlage drin gewesen wäre. Und zum Glück gab es auch noch das absolute Highlight…das zwischenzeitliche 1:3 des eingewechselten Stürmers Reece Styche vom englischen Fünftligisten Hereford United!

Ich bin und bleibe jedenfalls ein großer Fan des Fußballs „Made in Gibraltar“…da steckt jede Menge Liebe zu diesem Sport drin! Mit dem abschließenden Sieg qualifizierte sich die Nationalmannschaft der Schweiz für die Europameisterschaft 2020! Herzlichen Glückwunsch!

Mein Einsatz war mit dem Schlusspfiff allerdings noch nicht beendet. Ich durfte noch einen überragenden Abend mit dem gesamten Team der Gibraltar Football Association verbringen…Details kann ich natürlich nicht verraten…sonst wäre ich ebenfalls ein schlechter Gast. Die Jungs sind in jedem Fall richtig gute Typen!

Zum Abschluss meines Aufenthaltes in Gibraltar musste ich noch einen Fuß auf den Affenfelsen setzen. Der ist prinzipiell sehr einfach zu bezwingen…per Seilbahn oder einer geführten Rundfahrt mittels Sammeltaxi kommt man ganz bequem nach oben, um die atemberaubende Aussicht über die Straße von Gibraltar und die Bucht von Algeciras zu genießen.

Weitaus anstrengender ist da der Aufstieg „per pedes“. Während eine Wanderung über die gut ausgebauten Straßen und Wege für ungeübte Mitmenschen maximal ein durchgeschwitztes T-Shirt bedeutet, lauert kurz vor dem Europa Point der beschwerlichste Weg auf den Felsen!

Bei den „Mediterranean Steps“ handelt es sich um eine Mischung aus Naturpfad und Treppensystem, welches vom britischen Militär zu Verteidigungszwecken angelegt wurde. Auf dem Weg in Richtung Felsenspitze kommt auch der geschichtlich interessierte Besucher ganz auf seine Kosten, da mehrere Gefechtsstellungen aus dem 2. Weltkrieg zu besichtigen sind. Bei der unfassbar schönen und vor allem weiten Aussicht kann man sich förmlich vorstellen, dass es für die deutschen Schiffe sehr schwierig war, während des Krieges unerkannt durch die Meeresenge zu gelangen!

Was sich jetzt alles schon wieder nach einem lockeren Spaziergang anhört und eher auf ein entspanntes Sightseeingprogramm deutet, war letztlich dann doch eine äußerst intensive Sporteinheit. Bei Ankunft auf dem Gipfel und einem Aufstieg von insgesamt 400 Metern war ich…nett gesagt…fix und fertig. Von dem direkt einsetzenden Muskelkater hatte ich noch drei Tage später etwas…der andere Kater vom Vorabend war dafür gänzlich verschwunden!

Trotzdem ist dieser Weg auf den Felsen für Besucher des britischen Überseegebietes ein absolutes Muss. Die Natur, die Aussicht und nicht zuletzt die frei lebenden Berberaffen, welche zur Begrüßung am Gipfel warten, sollte man erlebt haben!

Nach einer ausgedehnten Wanderung auf dem Gipfel mit Besichtigung der beiden Tunnelsysteme aus dem 18. Jahrhundert (Great Siege Tunnels) und dem 2. Weltkrieg (World War II-Tunnels) ging es am Abend ein letztes Mal ins lieb gewonnene Victoria Stadium! 

Nachdem die A-Nationalmannschaft Gibraltars das unwiderruflich letzte Pflichtspiel vor dem geplanten Umbau im heimischen Stadion absolvierte, durfte auch die U21 Gibraltars ihren persönlichen Abschied vom eigenen Stadion feiern!

Diesmal war natürlich alles eine Nummer kleiner…etwa 300 unentwegte Fußballinteressierte waren gekommen, um die jungen „Gibbos“ bei freiem Eintritt im Spiel gegen die U21 Weißrusslands unter die Lupe zu nehmen!

Auch bei diesem Spiel handelte es sich um ein Qualifikationsspiel zur Europameisterschaft, welche für die U21-Teams im kommenden Jahr in Ungarn und Slowenien ausgetragen wird.

Bei einem Blick auf das Resultat aus dem Hinspiel konnte dem Gibraltar-Fan schon mal Angst und Bange werden, da die jungen „Gibbos“ sang und klanglos mit 0:10 untergingen.

Das Rückspiel konnten die Jungs von Coach David Ochello weitaus offener gestalten. Obwohl die Mannschaft Weißrusslands gerade körperlich stark überlegen wirkte, setzte Gibraltar immer wieder gefährliche Nadelstiche und spielte mit. Nach dem Hinspielergebnis schon ein wenig unerwartet. 

Leider gab es am Ende aber auch hier keine Überraschung…die U21 aus Belarus setzte sich einigermaßen verdient mit 2:0 (1:0) durch! Mit diesem Sieg in Quali-Gruppe 7 konnte man Portugal und die Niederlande aber nicht mehr abfangen und bleibt wie Gibraltar zu Hause!

Mit Abpfiff des niederländischen Schiedsrichters Bram van Driessche schlich sich bei mir eine melancholische Stimmung ein…das war dann wohl der unwiderrufliche Abschied von diesem „alten“ Victoria-Stadium…ein besonderer Ort für mich!

Die Gibraltar Premier Division mit St Joseph’s FC und LYNX FC, das erstmalig ausgetragene UEFA Champions League-Qualifikations-Turnier mit dem Lincoln Red Imps FC, UEFA Europa League-Qualifikation mit Europa FC oder die gibraltarische Nationalmannschaft in den European Qualifiers…es waren intensive 2 1/2 Jahre mit schönen Erinnerungen und netten Menschen!

Das kleine Stadion mit seinem offiziellen Fassungsvermögen von 5000 Zuschauern…einer tatsächlichen Kapazität von gut 2000 Besuchern…lebte von seiner Atmosphäre im Schatten des Affenfelsens, der Lage neben Start- und Landebahn des Airports sowie der hinter der Gegentribüne befindlichen Cepsa-Tankstelle.

Ich bin jedenfalls schon gespannt, was dort an gleicher Stelle entstehen wird und ob es die „Gibbos“ schaffen, den Charme des alten Stadions im neuen Ground zu verankern.

Das wirklich letzte Highlight dieser Reise wartete dann am Gibraltar International Airport. An diesem sehr modernen Flughafen landen und starten täglich nur 3-4 Verkehrsflugzeuge. 

Aufgrund der geringen Auslastung fühlt sich das „wie früher“ an. So oder so ähnlich muss es vor 30 Jahren gewesen sein, als der exklusive Fluggast durch nahezu menschenleere Terminals flanierte und im Duty-Free-Shop noch eine Flasche Gin für die Daheimgebliebenen erwarb!

Es ging zurück zum Gatwick Airport…wieder ein Airbus A319 von easyJet…was soll ich sagen, die Landung war schon atemberaubend, aber der Start mit dem letzten Blick auf den Felsen, die Stadt Gibraltar und den Europa Point kann man mit Worten fast nicht beschreiben. Ich hätte am Liebsten ein Herz am Fenster des Flugzeuges hinterlassen.

In meinem Instagram-Account https://www.instagram.com/Henning_loves_football/ gibt es wie gewohnt noch viele zusätzliche Eindrücke aus Gibraltar mit bewegten Bildern in der Story! Schaut mal rein!

STAY TUNED…Special Thanks to Louis Wink, Lee Casciaro und Keith Cumbo!